Wie individuelle Freiheit und kollektive Verantwortung zusammengehören. Ein Plädoyer in zehn Punkten.
- Freiheit und individuelle Entfaltung
Freiheit gilt vielen als selbstverständlich – ein Grundrecht, ein Lebensgefühl, eine Errungenschaft moderner Demokratien. In ihrer individuellsten Form bedeutet Freiheit die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten, den eigenen Lebensweg zu gestalten und die eigene Stimme zu erheben. Für viele Generationen war das keine Selbstverständlichkeit. Die Freiheit, die wir heute in westlichen Demokratien genießen, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe – gegen Diktaturen, gegen Unterdrückung, gegen starre gesellschaftliche, auch moralischer, Normen.
Doch was bedeutet Freiheit in einer Zeit, in der scheinbar alles möglich ist? Bedeutet sie, tun und lassen zu können, was man will? Oder gibt es Grenzen, jenseits derer Freiheit zur Beliebigkeit oder gar zum Problem wird?
Spätestens seit der Corona-Pandemie wurde vielen bewusst, dass Freiheit nicht nur individuell, sondern auch kollektiv gedacht werden muss. Die Lehre: Freiheit braucht Verantwortung – gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber anderen.
- Freiheit und Egoismus
„Für mich repräsentiert der Markt Freiheit und der Staat Diktatur“, sagte Angela Merkel zu Beginn der 2000er-Jahre. Ein Satz, der die liberale Sehnsucht nach möglichst wenig staatlichem Eingriff auf den Punkt bringt – und zugleich ein problematisches Spannungsverhältnis aufzeigt. Denn der Ruf nach Freiheit wird häufig dann laut, wenn es eigentlich um Eigeninteressen geht. Doch diese Sehnsucht kann gefährlich werden, wenn sie die Freiheit anderer untergräbt.
In der Werbung wird dieses Freiheitsverständnis gerne inszeniert: Die Kreditkartenmarke VISA warb in den 1990er-Jahren mit dem Slogan „Die Freiheit nehm’ ich mir“ – ein Ausdruck maximaler Individualisierung, in dem Konsum zur vermeintlichen Selbstbestimmung wird. Auch die Postbank stellte in ihrer Kampagne „Unterm Strich zähl ich“ das Ich ins Zentrum – ein Werbespruch, der ebenso gut als Leitmotiv für die Deutung von Freiheit stehen könnte, bei der das Individuum über der Gesellschaft steht. Beide Claims zeigen, wie eng Freiheit mit Autonomie und persönlicher Vorteilsmaximierung verknüpft wird – und wie leicht dabei der Blick für das Gemeinwohl verloren geht.
Der Ruf nach Freiheit ist oft nicht mehr als schlecht getarnter Egoismus. Wenn Menschen sich gegen Klimaschutzmaßnahmen oder soziale Pflichten wehren, geschieht das nicht selten im Namen ihrer „Freiheit“. Doch was ist das für eine Freiheit, die auf Kosten anderer erkauft wird? Die Krise von 2008 zeigte exemplarisch, wie ungebremste Freiheit – in diesem Fall die der Finanzmärkte – zu kollektiven Schäden führen kann.
„Der Staat ist nicht dein Erziehungsberechtigter“, lautet ein Wahlslogan der FDP. Er trifft genau dann zu, wenn jede:r Einzelne bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Fehlt diese Bereitschaft – sei es aus Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit oder Ignoranz – wird der Staat zum Schutz anderer eingreifen müssen. Nicht, weil er will, sondern weil er muss.
Ein besonders symbolisches Beispiel für dieses Spannungsfeld ist der oft zitierte Ausspruch: „Freie Fahrt für freie Bürger“ – eine rhetorische Keule gegen Tempolimits, obwohl die Fakten über Sicherheit, Lärm und CO₂-Emissionen gute Argumente liefern. Dabei kann und soll über die tatsächliche Wirksamkeit einzelner Maßnahmen wie Tempolimits hinsichtlich der CO₂-Reduktion durchaus diskutiert werden. Doch der Slogan steht sinnbildlich für eine tief verwurzelte Abneigung gegen jede Form staatlicher Regulierung – auch dann, wenn sie dem Schutz von Klima, Umwelt und Verkehrssicherheit dient.
Er verkörpert die Vorstellung, dass Freiheit absolut sei – und blendet dabei aus, dass sie eben nicht auf Kosten anderer funktionieren darf. Wer Freiheit ernst nimmt, muss bereit sein, sie zu teilen und zu begrenzen, wenn sie Schaden anrichtet.
- Freiheit und das Schutzversprechen des Staates
Freiheit ist kein Zustand völliger Regellosigkeit, sondern ein Raum, der durch Regeln ermöglicht wird. Unser Grundgesetz stellt Freiheit ganz oben an – von der Religionsfreiheit über die Versammlungsfreiheit bis hin zur Freiheit des Eigentums.
Der Staat hat die Aufgabe, Freiheit zu garantieren – nicht nur als Abwesenheit von Zwang, sondern als aktiven Schutzrahmen. Dazu gehört auch, dass er eingreift, wenn Freiheit zur Gefahr wird. In der Corona-Krise wurde das sichtbar: Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Maskenpflicht – massive Eingriffe in die Freiheit, und doch im Sinne des Schutzes des Gemeinwohls. Jede Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer gefährdet. In der Pandemie wurde deutlich: Um Leben zu schützen, musste der Staat die Bewegungsfreiheit einschränken. Ein schmerzhafter, aber notwendiger Schritt. Die berühmten Worte von Benjamin Franklin mahnen: „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“ Und doch: Manchmal muss Freiheit temporär eingeschränkt werden, um sie langfristig zu sichern.
Solche Eingriffe dürfen keine Regel werden – aber sie zeigen, dass Freiheit immer in einem Spannungsverhältnis zur Sicherheit steht. Je weniger wir selbst Verantwortung übernehmen, desto stärker greift der Staat regulierend ein. Je verantwortungsvoller wir uns verhalten, desto weniger Eingriffe sind nötig.
- Freiheit und wirtschaftliche Entfaltung
Die wirtschaftliche Freiheit ist eine der tragenden Säulen moderner Gesellschaften. Unternehmen sollen sich entfalten, neue Ideen umsetzen, Innovationen hervorbringen dürfen. Die wirtschaftliche Freiheit zählt zu den großen Errungenschaften liberaler Gesellschaften. Doch sie birgt auch Risiken. Die Finanzkrise 2008 zeigte, wie fehlende Kontrolle und überbordender Egoismus auf den Märkten weltweit Existenzen vernichteten. Die Gewinne wurden privatisiert, die Verluste sozialisiert.
Die Freiheit ist nicht grenzenlos: Wer ausschließlich auf die Maximierung von Umsatz und Gewinn setzt und soziale oder ökologische Konsequenzen ignoriert, missbraucht den Begriff der Freiheit. Gerade in einer globalisierten Welt ist wirtschaftliche Freiheit unweigerlich mit Verantwortung verbunden – gegenüber Mitarbeitenden, gegenüber der Umwelt, gegenüber dem globalen Süden.
Wer dem Markt gar nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht – weil er oder sie Kinder erzieht, arbeitslos ist, alt, krank oder behindert – hat von dieser Freiheit oft wenig. Deshalb schufen die Mütter und Väter der sozialen Marktwirtschaft ein Korrektiv: Arbeitsschutzgesetze, Sozialversicherungen, Mindestlöhne, Bildungschancen. Diese Instrumente sorgen dafür, dass Freiheit nicht nur denen zugutekommt, die ohnehin stark sind.
Doch dieses Gleichgewicht gerät zunehmend unter Druck – durch Globalisierung, Deregulierung und den Wunsch nach weniger Bürokratie. Dabei darf nicht vergessen werden: Weniger Regeln für die einen bedeuten oft weniger Schutz für die anderen.
- Freiheit und soziale Marktwirtschaft
Die soziale Marktwirtschaft war und ist der Versuch, wirtschaftliche Freiheit mit sozialer Verantwortung zu versöhnen. Ihre Architekten verstanden, dass ein freier Markt nicht automatisch zu gerechter Verteilung führt. Deshalb schufen sie Mechanismen wie Arbeitsschutzgesetze, Bildungsoffensiven und bauten die Sozialversicherungen aus.
Heute gerät dieses Gleichgewicht wieder unter Druck. Der Wettbewerb mit Billigstandorten, die Globalisierung und der Ruf nach Deregulierung bedrohen die Errungenschaften, die einst geschaffen wurden, um Freiheit für alle zu ermöglichen – nicht nur für die Stärksten.
In einer Welt, in der Unternehmen global agieren, braucht es Regeln, die über den wirtschaftlichen Nutzen hinausgehen – zum Beispiel das Lieferkettengesetz, das Unternehmen verpflichtet, auf Menschenrechte und Umweltschutz entlang ihrer Wertschöpfungsketten zu achten. Kritiker monieren hinsichtlich des Aufwands zu Recht viel zu viel Bürokratie. Doch wer dieses Gesetz pauschal in Gänze abschaffen will, stellt die unternehmerische Freiheit in den reichen Ländern über die Grundrechte der Menschen im globalen Süden. So wird die Freiheitsdebatte zur Tarnung wirtschaftlicher Interessen – auf Kosten anderer.
- Das Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung
Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille. Freiheit, die keine Verantwortung kennt, degeneriert zur Willkür. Verantwortung, die keine Freiheit erlaubt, wird zur Bevormundung. Hannah Arendt betonte, dass Freiheit nur im öffentlichen Handeln wirklich lebendig wird – in der Mitgestaltung des Gemeinwesens. Und Philosophen wie Kant und Hegel mahnten, dass wahre Freiheit erst dort entsteht, wo Menschen Verantwortung für das Ganze übernehmen – sei es in der Familie, im Beruf oder in der Gesellschaft. Auch Rosa Luxemburg wusste: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“ Das bedeutet nicht nur Toleranz, sondern auch Respekt vor der Freiheit anderer.
Doch Freiheit ohne Verantwortung ist eine Illusion – oder schlimmer: eine Bedrohung. Wenn Bürger:innen und Unternehmen in Krisenzeiten mehr Freiheit fordern, müssen sie auch bereit sein, die Konsequenzen ihrer Handlungen zu tragen. Freiheit ist kein Einbahnstraße.
- Freiheit und der Schutz der Mitmenschen
Individuelle Freiheit darf nicht zur Bedrohung für andere werden. Wer auf seiner Konsumfreiheit beharrt und dabei die Lebensgrundlage anderer zerstört – sei es durch Umweltverschmutzung, CO₂-Ausstoß oder soziale Ausbeutung –, der handelt verantwortungslos. So ist kaum jemand offen gegen Klimapolitik. Doch sobald es konkret wird –nachhaltige Mobilität, weniger Fleischkonsum – ertönen Rufe nach Freiheit und gegen Bevormundung. Dabei geht es oft nicht um echte Freiheit, sondern um die Verteidigung liebgewonnener Gewohnheiten.
Freiheit, die anderen schadet, ist keine Freiheit, sondern Rücksichtslosigkeit. Verantwortung bedeutet, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere mitzubedenken – nicht nur heute, sondern auch für zukünftige Generationen.
John Stuart Mill formulierte mit seinem berühmten „Schadensprinzip“ eine klare Grenze: Freiheit endet dort, wo andere zu Schaden kommen.

Freiheit endet, wo die Freiheit anderer Schaden nimmt – (c) erstellt mit ChatGPT | DALL-E
- Das Schadensprinzip nach John Stuart Mill
Kaum ein Denker hat das Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung so klar formuliert wie John Stuart Mill, einer der einflussreichsten Vordenker des politischen Liberalismus. Sein Werk „On Liberty“ (dt. „Über die Freiheit“) aus dem Jahr 1859 ist bis heute ein Grundpfeiler liberaler Gesellschaften – ein leidenschaftliches Plädoyer für individuelle Selbstbestimmung und zugleich eine kluge Mahnung vor den Gefahren ungebremster Freiheit.
Mill betont in seiner Schrift, dass die Freiheit des Einzelnen ein unverzichtbares Gut ist – insbesondere die Freiheit der Meinung, der Lebensführung und des persönlichen Handelns. Sie ist Voraussetzung für menschliches Glück, Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung. Doch er macht ebenso deutlich: Freiheit endet dort, wo sie anderen schadet.
Dieser Gedanke – das sogenannte Schadensprinzip – ist bis heute hochaktuell:
„Der einzige Zweck, zu dem Macht rechtmäßig über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden darf, ist, Schaden an anderen zu verhindern.“ – John Stuart Mill
Was zunächst wie eine Einschränkung klingt, ist in Wirklichkeit der ethische Rahmen, der Freiheit überhaupt erst ermöglicht. Ohne eine solche Grenze würde aus Freiheit Rücksichtslosigkeit, aus Selbstbestimmung Willkür. Das Schadensprinzip ist deshalb nicht nur ein juristisches Argument für Eingriffe des Staates, sondern auch ein moralisches Korrektiv für verantwortungsvolles Handeln.
Mill warnt zudem vor der „Tyrannei der Mehrheit“ – einer Gefahr, bei der die dominante Meinung oder Moralvorstellung einer Gesellschaft die Rechte von Minderheiten erdrücken kann. Auch deshalb fordert er Schutzmechanismen für Individualität und Anderssein, denn wahre Freiheit zeigt sich nicht nur in der Mehrheit, sondern im Respekt gegenüber dem Unangepassten.
Seine Gedanken sind heute relevanter denn je: In Zeiten von Hate Speech, radikalisierten Debatten, Desinformation und populistischem Gruppendruck erinnert uns Mill daran, dass Freiheit kein Selbstzweck ist. Sie braucht Reife, Reflexion – und Verantwortungsbewusstsein.
- Das Schadensprinzip in Bezug auf Umwelt- und Klimaschutz
Was früher abstrakt klang, ist heute konkret: Wer durch sein Verhalten die Umwelt schädigt, gefährdet andere – direkt oder indirekt. Umweltschäden sind Fremdschäden. Sie treffen Menschen – in Form von Hitzewellen, Überschwemmungen, Artensterben. Sie bedrohen Lebensgrundlagen, auch in der Zukunft.
Die CO₂-Bepreisung und der Handel mit Emissionsrechten sind Versuche, den Markt in die Pflicht zu nehmen. Doch während Unternehmen damit gut leben können, verändert sich für Bürger:innen die Freiheit ungleich: Wer mehr Geld hat, kann sich weiterhin jedes Verhalten leisten. Wer wenig hat, muss sich einschränken. Deshalb stellen sich viele zu Recht die Frage, ob gezielte Regeln nicht gerechter wären.
Je mehr Natur für Wachstum und Konsum geopfert wird, desto notwendiger werden staatliche Eingriffe. Denn: Der Markt allein schützt weder Wälder noch Klima. Und ohne Umwelt gibt es keine Freiheit mehr – zumindest keine überlebensfähige.
Besonders spannend ist deshalb, wie sich Mills Ideen auf aktuelle Herausforderungen wie den Klimaschutz übertragen lassen. Ursprünglich formulierte Mill sein Prinzip im Kontext individueller und gesellschaftlicher Freiheiten – doch es lässt sich zeitgemäß weiterdenken:
Wenn jemand heute massiv CO₂ ausstößt, Ressourcen verschwendet oder Natur zerstört, dann sind die Auswirkungen längst nicht mehr privat. Sie betreffen andere – heute, morgen und übermorgen. Sie gefährden Lebensgrundlagen, Gesundheit, Artenvielfalt und den sozialen Frieden. Kurz: Sie fügen anderen Schaden zu.
In Mills Logik bedeutet das: Solche Handlungen müssen eingeschränkt werden – nicht aus Willkür, sondern aus legitimem Schutzinteresse. Staatliche Maßnahmen wie Emissionsgrenzen, Umweltgesetze oder auch Verbote besonders klimaschädlicher Praktiken sind nicht autoritäre Bevormundung, sondern notwendige Verteidigung der Freiheit aller. Denn was nutzt die größte Freiheit des Konsums, wenn sie die Lebensgrundlagen zerstört?
Mill hat zwar nicht explizit von intergenerationeller Gerechtigkeit gesprochen – doch sein Schadensprinzip lässt sich darauf erweitern:
Wer heute durch egoistisches Verhalten die Zukunft zerstört, beraubt kommende Generationen ihrer Freiheit. Und damit steht genau die Art von Freiheit zur Disposition, die Mill verteidigt hat – das Recht auf ein selbstbestimmtes, sicheres und würdiges Leben.
- Freiheit verpflichtet zur Übernahme individueller Verantwortung
„Moderate Einschnitte in die Freiheit heute ersparen drastische Einschnitte morgen“, sagen Wissenschaftler. Wenn wir jetzt nicht handeln, drohen Notfallmaßnahmen, die weit tiefere Einschnitte mit sich bringen – für Demokratie, für Sicherheit, für das Leben selbst.
Freiheit ist ein hohes Gut – aber sie ist kein Freibrief für Verantwortungslosigkeit. Wer echte Freiheit will, muss bereit sein, sich einzubringen, sich zu begrenzen und auch mal zurückzunehmen. Nicht aus Zwang, sondern aus Einsicht. Aus Solidarität. Aus dem Wunsch, Freiheit für alle zu bewahren – heute und morgen.

Individuelle Freiheit verpflichtet zur Verantwortung für die Gesellschaft | (c) erstellt mit ChatGPT-DALL-E